Ein zufälliges Ereignis kann eure Geschichte starten, aber die Motivation eures Protagonisten ist das, was sie in Gang hält. Unnötig zu betonen, dass sie deshalb extrem wichtig ist. Manchmal sind es aber gerade die einfachsten Dinge, an denen eine Geschichte scheitert, also reden wir heute über dieses Thema:
Hat dir schon einmal ein Testleser ein Fragezeichen an eine Entscheidung deines Protagonisten gemalt oder ein vielsagendes „Hä?“. Vielleicht hat er (oder sie, weil ja heute Weltfrauentag ist) nicht verstanden, was deine Figur zu dieser Entscheidung getrieben hat. Entweder ist die Motivation bis dorthin nicht klar geworden oder die Entscheidung steht im Widerspruch dazu. Ein einfaches Beispiel:
Dein Leser kann möglicherweise nicht nachvollziehen, warum dein Protagonistin in die dunkle Spinnenhöhle geht, obwohl sie furchtbare Angst vor Spinnen hat. Weiß er aber, dass in der Höhle die Puppe liegt, die sie unbedingt zurückholen will, weil sie das letzte ist, was sie noch von ihrer geliebten Mutter besitzt, wird (zumindest ein bisschen) verständlicher, warum sie ihre Angst überwindet und die Spinnweben beiseite schiebt.
Zu einer Motivation gehören auch Folgen des Erfolgs oder Misserfolgs. Auch diese sollten uns beim Schreiben klar sein und unsere Leser sollten sie ebenfalls erkennen können. Dies macht die Motivation verständlicher und bestärkt sie. Der Leser kann sich bei starker Motivation der Hauptfigur kaum entziehen. Wir kreieren ein Szenario, in dem die unlogische Handlung der Hauptfigur vollkommen logisch wirkt. Auch dem Leser fällt im besten Falle keine bessere Lösung des Problems ein.
Vor einigen Tagen diskutierte ich mit einigen meiner Kollegen aus der Schreibgruppe die Motivation von Harry Potter zu Beginn von Band 1.
Irgendwelche Ideen? Was treibt den jungen Harry Potter an?
Ich grübelte und grübelte. Irgendwann sagte ein Fan „Ist doch klar, er will weg von den Dursleys!“ – Wenn das seine Motivation ist, ist der Film/das Buch nach wenigen Seiten beendet, denn er kommt ja ohne eigenes Zutun auf das Internat (ist doch egal, dass sie dort zaubern – das können wir dann weglassen, weil es keine Bedeutung für die Geschichte hat).
Es müsste also eigentlich etwas Größeres sein, das ihn treibt. Aber da kommt nichts. Harry treibt durch die magische Geschichte. Geleitet von zauberhaften Nebendarstellern und einem wunderschönen Szenario. Dann überschlagen sich die Ereignisse und irgendwie rutscht Harry in diese Stein der Weisen-Sache hinein. Ich will die Geschichte nicht schlecht reden. Ich mag sie selbst sehr gern, aber eine Motivation hat die Figur Harry Potter nicht. Aus diesem Grund habe ich wohl auch nie mit ihm mitgefiebert. Schon immer mochte ich Hermine viel lieber – sogar Ron mag ich mehr als Harry und der heimliche Star ist sowieso Neville.
Hermine setzt sich für etwas ein. Sie ist „genetisch benachteiligt“ und muss um Anerkennung kämpfen. Sie ist fleißig und und muss ständig ihrem etwas dümmeren Kumpel Harry aus der Sch***e holen. Wenn sie die Hauselfen-Hilfsorganisation gründet wird noch einmal deutlicher, wofür sie steht. Sie kämpft für die Rechte der Benachteiligten.
Ron kämpft darum, als Individuum angesehen zu werden. Als Sidekick vom berühmten Harry Potter ist das schwierig, aber er liebt seinen besten Freund zu sehr, um ihn langfristig abzusagen. Ständig bekommt Harry alles, was Ron gern hätte. Wie eifersüchtig muss der arme, rothaarige Junge aus der Großfamilie sein? Trotzdem steht er Harry treu zur Seite und opfert sich immer wieder für ihn. Er nimmt ihn sogar in seine Familie auf – das einzige, was Harry nicht hat und worum er Ron beneidet.
Jetzt reicht es aber mit dem Ausflug nach Hogwarts (ich trage übrigens beim Schreiben dieser Zeilen mein Hogwarts-Shirt!). Die Geschichten haben trotzdem funktioniert, weil sie die Fantasie der Leser angeregt haben – es ein tolles Marketing gab, schöne Filme zur Weihnachtszeit herausgebracht wurden und und und. Harry ist kein mieser Typ, seine Autorin hat nur vergessen, ihm eine nachvollziehbare Motivation mitzugeben (übrigens genauso bei Frodo aus dem Herrn der Ringe, dessen Schicksal mir von Anfang bis Ende herzlich egal war) – damit dir das nicht passiert, habe ich ja hier diesen Artikel für dich.
Für mein Projekt Höhlenstaub brauche ich für jede meiner Figuren eine nachvollziehbare Motivation, weil ich aus vielen Perspektiven erzählen möchte. Außerdem bin ich ein Freund davon, auch Antagonisten und Nebenfiguren mit nachvollziehbaren Motiven auszustatten. Nicht immer benutze ich diese Antriebe auch aktiv (also ich erzähle vielleicht nicht davon). Trotzdem sind sie mir wichtig, weil ich wissen muss, dass ihre Handlungen in sich logisch sind.
Mein Cast für dieses Projekt ist extrem groß. Allein für den ersten Block brauche ich mehr als 20 Motivationen und ich möchte natürlich nicht, dass alle Figuren den gleichen Antrieb haben. Das wäre unrealistisch und noch viel schlimmer… langweilig!
Warum ich diesen Song hier verlinke? Ich finde, hier wird musikalisch ziemlich klar, was Motivation bedeutet. Weshalb läuft denn der Junge überhaupt? Warum läuft er schnell, wenn er auch langsam gehen könnte? Natürlich könnten wir hier auch Musik diskutieren, aber dann käme ich überhaupt nicht mehr zum Schreiben…
Außerdem will ich schon seit Jahren mal auf dieses Festival und der Song hat einen tollen Spannungsbogen. Vielleicht sollte ich tatsächlich mal einen Beitrag über Musik schreiben?!
Weiter im Text:
Ich hoffe, jede deiner wichtigen Figuren hat eine erkennbare Motivation und ihre Handlungen haben Konsequenzen. Falls nicht, findest du vielleicht in der folgenden Sammlung einen Hinweis, was die Figuren antreiben könnte.
Grundsätzlich gilt es zwei Arten von Motivation zu unterscheiden
Es gibt einerseits hin-zu Motivation und andererseits weg-von Motivation. Ganz klar sind hin-zu motivierte Figuren eingeschränkter in ihren Optionen, weil sie ein bestimmtes Ziel vor Augen haben, das sie erreichen wollen. Die weg-von motivierten Figuren sind offener für das Ziel, wissen aber, wo sie auf keinen Fall enden wollen.
Wahrscheinlich kennt es jeder irgendwie doch aus dem eigenen Leben. Es findet sich schon in ganz kleinen Alltagssituationen. Manchmal will man aus einem Streit nur flüchten – da leitet einen eine Weg-von Motivation. Will man aber eine (Aufnahme-) Prüfung unbedingt bestehen, ist es eine Hin-zu Motivation, die einen zum Lernen antreibt. Weg-von kann immer auch chaotisch sein, während hin-zu Konzentration erfordert. Keine der beiden Varianten ist grundsätzlich falsch, so lange man beim Schreiben weiß, was man vor sich hat.
Harry ist (so denn sein Ziel „weg von den Dursleys“ lautet) weg-von motiviert. Etwas überspitzt könnte man sagen: Ob er in dem Zauberertinternat landet oder im Knast ist erstmal egal (bis er Hogwarts kennenlernt und dort bleiben möchte). Die Story ist total offen. Der Autor kann seine Figur überall hin treiben, ohne dass das Ziel aus den Augen verloren wird. Wäre Harrys Motivation aber „den Dunklen Lord besiegen“ (was ja nun später tatsächlich so ist), müsste die Autorin ihn eben genau dorthin treiben, wo sich entscheidet, ob er den Dunklen Lord nun besiegt oder scheitert. Ich hoffe, es ist verständlich, worauf ich abziele.
Was muss ich dann beachten?
Für mich ganz persönlich bedeutet das: Wenn ich eine weg-von Motivation habe, kann ich ohne Plot losschreiben – habe ich eine hin-zu Motivation, muss ich zumindest einen groben Weg vorgeben. Das kann für jeden anders sein, weil manch einer ohne Plot trotzdem dort ankommt, wo die hin-zu Figur hin muss.
Für mich klappt das leider erfahrungsgemäß nicht (im ersten Versuch).
Die meisten Ziele, die im Folgenden* aufgeführt sind, können mit beiden grundlegenden Antriebsrichtungen verfolgt werden und fast alles funktioniert in jedem Genre.
Sich einen Traum erfüllen
Der große Lebenstraum, das kann der Traumjob (Schauspieler, Modell, Rockstar o.ä.) sein, eine Weltreise oder etwas vollkommen anderes. Hier arbeitet der Protagonist meist nur für sich selbst, muss aber nicht egoistisch sein. Wenn dieses Motiv verwendet wird, finde ich es wichtig, dass der Wunsch ausreichend nachvollziehbar aufgebaut wird. Einen plötzlich auftauchenden großen Traum glaube ich der Figur nicht, wenn der Traum nicht zu ihr zu passen scheint. Beispielsweise könnte ich mir nicht vorstellen, dass ein introvertierter junger Mensch aus tiefstem Herzen ein Superstar werden möchte. Wenn er von Natur aus gar nicht gern etwas von sich preis gibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich im Rampenlicht und umzingelt von Paparazzi wohl fühlt. Natürlich mag es hier tolle (vielleicht sogar reale) Gegenbeispiele geben, aber im Buch glaube ich das nur, wenn der Autor es mir ausreichen nachvollziehbar erklärt.
Der Traum kann aber auch in einer Weltumsegelung oder dem Schulrekord auf 400m-Hürden bestehen.
Jemanden oder Etwas vor Unheil bewahren
Die Angebetete, das Kind oder die Katze sind in Gefahr. Die Gefahr kann dabei eine andere Person sein (häufiges Motiv in Thriller) oder beispielsweise eine Naturkatastrophe.
Das Retten oder Schützen geht meist damit einher, dass sich die Figur selbst in Gefahr begibt, deshalb muss sie eine nachvollziehbare altruistische Veranlagung haben oder eine starke emotionale Bindung zu dem Menschen oder der Sache haben.
Altruismus (hier: die Einstellung, dass Wohl anderer sei gleichwertig mit dem eigenen oder sogar höherwertig als das eigene) ist häufig bei Menschen zu finden, die in Berufen arbeiten, in denen sie anderen helfen (Ärzte, Pflegekräfte, Feuerwehrleute, Polizisten etc.). Einem Mafiaboss oder Börsenspekulanten traut man solche Züge eher weniger zu.
In Fantasy-Geschichten kann daraus auch eine Heldenreise folgen, weil die Hauptfigur nach dem Heilmittel für eine Krankheit sucht oder den blöden Ring ins Feuer werfen will.
Soziale Anerkennung finden
Ein Mauerblümchen (häufig in der gängigen Literatur weiblichen Geschlechts) möchte beispielsweise von Mitschülern oder dem Traumpartner beachtet werden. Sie möchte zu einer Clique gehören oder den Jungen erobern. Das Motiv kommt häufig bei Jugendlichen vor, die viel auf die Meinung Dritter geben. Es ist aber auch eine ebenso gute Motivation für Erwachsene. Eine (einsame) Figur kann sich schließlich in jedem Alter nach Freundschaft oder Liebe sehnen.
Ein gutes Beispiel findet sich in Engel der Verdammnis von Lisa J. Smith (Meine Rezension)
Seinen Namen rein waschen
Jemand wird zu Unrecht für etwas verantwortlich gemacht. Niemand ist nennenswert daran interessiert dem Protagonisten zu helfen, also muss er sich selbst dafür einsetzen. Möglicherweise droht der Figur sonst das Gefängnis, das Ende der Karriere oder sie fürchtet, das Vertrauen geliebter Menschen zu verlieren.
Den Bösen schnappen
Dies ist ein sehr häufiges Motiv in Krimis. Der Kommissar braucht zwar nicht viel zusätzliche Motivation, einen Täter zu schnappen, denn es ist schließlich sein Job. Doch es hilft, wenn die Figur zusätzlich intrinsisch motiviert ist. Die Folge des Erfolgs ist möglicherweise das Verhindern weiterer Straftaten oder seelischer Frieden für das Opfer.
Der/Die Beste sein oder sich beweisen
Das Ziel kann hier ein Wettbewerb sein, den die Figur gewinnen will oder ein Job, den sie bekommen möchte. Die Figur würde hart trainieren und ist je nach Konstitution auch zu Betrug oder Sabotage bereit.
Aus einer Abhängigkeit entkommen
Ob es Drogen, Alkohol oder Misshandlung sein mögen. Sogar Co-Abhängigkeit ist etwas, vor dem man fliehen kann. Meistens sind die Figuren ziemlich verzweifelt, wenn sie sich zu diesem Schritt entschließen und haben bereits viel hinter sich. Haben Dinge getan, auf die sie nicht stolz sind. Möglicherweise sind diese Figuren erpressbar, weil sie sich ein neues Leben aufgebaut haben und niemand in ihrem neuen Umfeld die alten Geschichten erfahren darf.
Die Familie/Angehörige unterstützen
Die Figur benötigt Geld für Andere. Im Falle ihres Misserfolgs kann eine lebensnotwendige Operation nicht bezahlt werden oder die Familie verliert ihr Heim. Diese Motivation funktioniert für Figuren, denen viel am Wohl ihrer Mitmenschen liegt. Ein sozial isolierter Protagonist oder ein Egoist könnte mit dieser Motivation vermutlich nicht überzeugen.
Ein Vermächtnis oder einen Ruf bewahren
Eine Figur will beispielsweise verhindern, dass ein furchtbares Familiengeheimnis ans Licht kommt. Häufig tritt dies bei Figuren auf, die ein öffentliches Amt bekleiden oder sich dafür bewerben wollen. Die Bedrohung kann dabei sowohl in der Wahrheit als auch in einer Lüge bestehen.
Andersherum kann die Figur auch mit aller Macht einen schlechten Ruf bewahren wollen. Natürlich möchte der oben bereits erwähnte Mafiaboss nicht, dass bekannt wird, wie sehr er kleine Kätzchen liebt und dass er sogar in brennende Häuser rennt, um sie zu befreien.
Mit einem Verbrechen davonkommen
Diese Motivation kommt naturgemäß eher bei kriminellen Figuren vor. Die Oceans-Filme, Robin Hood oder die Serien White Collar, Sankt Maik (um auch mal etwas deutsches zu nennen) und Sneaky Pete sind schöne Beispiele für sympathische Verbrecher in der Hauptrolle. Meist handelt es sich bei den Verbrechen nicht um Gewalttaten, da dies es dem Leser/Zuschauer schwieriger machen würde, die Hauptfigur sympathisch zu finden. Es gelingt halbwegs bei Dostojewskis Schuld und Sühne, wo die Hauptfigur mehr oder minder versehentlich Gewalt ausübt und (wie der Titel schon andeutet) bereut.
Ansonsten gibt es diese Motivation häufig auch bei den Antagonisten in Krimis oder Thrillern. Um eine Tat zu vertuschen, wird hier vor einer weiteren Tat nicht zurückgeschreckt. Manchmal entwickelt sich eine Spirale, der die Figur nicht mehr entkommen kann.
Das Herz einer anderen Figur (zurück)erobern
Dies ist eine Art Sonderfall von „soziale Anerkennung finden“ mit dem klaren Ziel eine ganz bestimmte Person von sich zu überzeugen. Ganz klassisch ist diese Motivation in vielen Liebesromanen zu finden. Ein prominentes Beispiel findet sich bei Romeo und Julia. Beide Figuren verlieben sich und wollen den anderen erobern. Das klappt eigentlich ganz einfach, wären da nicht die verfeindeten Familien – trotzdem bleibt die Motivation die gleiche, es kommt nur hinzu, dass sie versuchen, vor den Familien zu fliehen.
Die Dramatik in Geschichten, die auf dieser Motivation aufbauen, ergibt sich meistens daraus, dass Missverständnisse auftreten und/oder Widerstände zu überwinden sind. Die Figur tut hier (fast) alles, um der anderen zu gefallen, was dann auch in eine ganz andere Art von Geschichte münden kann.
Die Motivation deiner Figuren kann sich natürlich im Verlauf der Geschichte verändern. Dafür benötigst du aber unbedingt eine nachvollziehbare Begründung für den Leser. Beispielsweise kann deine Figur einsehen, dass sein egoistisches Ziel (z.B. der Weltrekord über 400m Hürden) nicht wirklich seine Bedürfnisse erfüllt. Stattdessen läuft er möglicherweise nun lieber für den guten Zweck, das Haus seiner Oma zu retten. Oder der Footballspieler, der entweder bei dem entscheidenen Spiel vor dem Talentscout sein beißersehntes Sportstipendium bekommen könnte oder im Musical der Freundin singen kann, was ihr viel bedeuten würde. Ja, zweiteres ist natürlich ein typisches Highschool-Thema (und geklaut) und die Nachvollziehbarkeit ergibt sich nur, wenn man sich an seine Pubertät noch erinnern kann und was für „blöde“ Träume und Ideale man damals hatte. Mit dem Wissen des Erwachsenen hätte der Junge, der nur ein paar Monate später von der Freundin verlassen wurde, wohl doch lieber das Sportstipendium gewählt 😉
Damit würde ich für heute Schluss machen und weise noch einmal auf die kleine aber feine Fußnote hin. Es wird sich sicher nicht jede Motivation in meiner kleinen Auflistung wiederfinden – dafür sind die Möglichkeiten einfach zu groß – wenn nicht gar unendlich. Wenn dich das Thema interessiert, kann ich dir sehr empfehlen, einen Blick in den Character Motivation Thesaurus zu werfen.
*Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Eine Antwort zu “Motivation – Was treibt deine Figuren an?”
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