The Academy Project (TAP)

Dies ist ein Auszug aus einem unbearbeiteten Manuskript in der ersten Fassung, damit du einen Eindruck bekommst, wie sich ein Text verändert, bis er veröffentlicht wird.

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Kapitel 1

Die Arme des Bayou schlossen sich wie ein Kokon um mich. Das unablässige Zirpen von Insekten und anderen Sumpfbewohnern machte jede Musik überflüssig. Das Wasser war mir immer ein enger Freund gewesen. Ich liebte es, in den Sümpfen zu leben, wo es sonst niemanden freiwillig hinzog.

Die Anderen lebten nur deshalb hier, weil sie sich kein Heim auf befestigterem Grund leisten konnten. Würde man es ihnen anbieten, wären sie sofort verschwunden. Wie die direkten Nachbarn der Fishers. 

Die alte Schaukel quietschte lauter, als ich Anschwung nahm und auf dem alten Brett noch ein bisschen höher schwang. Ein Luftzug strich durch mein dichtes dunkelbraunes Haar und wehte mir kühle Luft in den Nacken. Jede Abkühlung war mir willkommen. 

Es war schon am Vormittag so heiß, dass man sich kaum bewegen mochte. Über mir schrie ein Braunpelikan, der sich im Anflug auf sein Nest am Fuß einer Gruppe Sumpfzypressen befand. Im Schilfgras vor mir raschelte es – entweder eins der gefräßigen Nutrias oder eine Schlange.

Je mehr Geräusche meine Umgebung machte, desto weniger konnte ich die Schreie aus dem Haus der Fishers hören. Sie stritten. Schon wieder. Inzwischen begleitete mich dieser Streit täglich. 

Die Sommerferien waren in meinem Leben nie eine Zeit der Entspannung und der Leichtigkeit gewesen. Es war eher ein stetiges Bangen und ein Tanz um den Vulkan. Keine der Familien, bei denen ich gelebt hatte, war sonderlich glücklich wenn ich im Sommer nicht zur Schule aus dem Haus ging. 

Deshalb hatte ich mir in diesem Sommer einen Job gesucht, um wenigstens stundenweise das Haus zu verlassen. Und, weil ich mir dann vielleicht ein paar der Sachen leisten konnte, die die anderen Schülerinnen von ihren Eltern geschenkt bekamen. Das Beste, was ich besaß, war dieses schwarze Shirt von Johnny Hollow – einer Band, die in meiner Schule außer mir wohl niemand kannte. Dazu trug ich heute blaue Jeansshorts, die meine gebräunten Beine erkennen ließen.

Ich wäre schon glücklich gewesen, hätte ich überhaupt Eltern gehabt. Keiner meiner Mitschüler hatte begriffen, was für ein Segen eine liebende Familie war. Allem Streit zum Trotz hatten sie Menschen, die sie immer wieder in die Arme nehmen würden – egal, was sie getan haben mochten.

Ich hatte niemanden und musste bei jedem Fehler fürchten, wieder im Heim zu landen.

Mit den Fishers war es schon zu lange gut gegangen. Fast zwei Jahre durfte ich schon bei ihnen leben und alles Gute endete irgendwann. Vielleicht war es Zeit. Viel länger würde der fragile Frieden zumindest nicht halten. Entweder Samson ging oder ich … meine Chancen standen deutlich schlechter als seine.

Mit den Füßen am Boden bremste ich den Schwung und stieg ab. Ich konnte es nicht mehr mit anhören. Wenn ich nichts Dummes tun wollte, musste ich hier weg. Zumindest zeitweise. Mein Rucksack lag am Fuß des rostigen Metallgestells. Es grenzte an ein Wunder, dass die Konstruktion sie noch immer trug. 

Die Nachbarn hatten die Schaukel in ihrem Garten schon vor einer Ewigkeit dem Verfall überlassen. Mitsamt dem Haus, in dem seit meinem Einzug niemand mehr gewohnt hatte. Allgemein hielt sich der Nachbarschaftsgeist in der Gegend in Grenzen. Außer den Fishers und mir wohnten in der abgelegenen Sackgasse im Sumpf nur Freaks. Freaks wie ich.

Auf eine ziemlich verquere Art passte ich also doch hierher. Zu schade, dass ich gehen würde, sobald sich Samson gegen Patty durchgesetzt hatte. Er wollte, dass ich ging, um Platz für das Baby zu machen. Es brauchte ein Zimmer, wenn es erstmal auf der Welt war. Ein Pflegekind, das den einzig passenden Raum belegte, passte ihm nicht in den Lebensplan.

Das Leben mit einem Baby im Haus stellte ich mir auch nicht gerade entspannter vor. Selbst wenn ich bleiben durfte, würde ich sicher die Auflage bekommen, mich nützlich zu machen. Babygeschrei und volle Windeln waren nicht unbedingt das, was ich mir erhofft habe, aber wann habe ich jemals bekommen, was ich mir gewünscht hätte. 

Klar würde ich bleiben und helfen, wenn sie mich lassen, aber das werden sie nicht. Samson hat einfach mehr Ausdauer als Patty.

Ich warf mir einen Riemen des Rucksacks über die Schulter, strich mein widerspenstiges Haar aus dem Weg und marschierte in meinen ausgetretenen Sneakers den Schleichweg zwischen der Siedlung und der Chemiefabrik entlang, der zur Hauptstraße führte. 

Überall lag vergessener Abfall – meist Plastik – herum. Manchmal überkam es mich und ich sammelte einen Beutel davon ein, aber die Vögel verteilten den Mist entweder gleich wieder über den Weg oder es kam von irgendwoher ein unbegrenzter Nachschub. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Schon von draußen hörte ich die Gitarre dröhnen. Brandon durchlebte wohl mal wieder einen seiner Egotrips und feierte sich selbst als großen Songwriter. Seit er mit Alyssa zusammen war, hatte die Häufigkeit dieser unangenehmen Momente deutlich zugenommen. Denn Brandon war vielleicht ein durchschnittlich guter Gitarrist, aber als Songwriter zeigte er bislang kein Talent. Man mochte ihm zugute halten, dass sich das noch entwickeln könnte…

Die Gitarre erstarb mit einem Krächzen, als ich die schwere Metalltür zum Probenraum, einer leeren Garage, aufzog. Cyrus hielt den Klinkenstecker in die Höhe. Er hatte Brandon die Verbindung zum Verstärker gekappt.

»Ist es jetzt mal gut?« Seine schmale Taille und die breiteren Schultern steckten in einem dunkelroten Shirt einer seiner liebsten Bands. Wie immer trug er das Basecap der Saison über den kurzen verwuschelten Haaren. Diesen Sommer war es beige und trug das Logo einer Automarke. »Ich kann dieses Geschrammel nicht mehr ertragen. Können wir wenigstens etwas normales spielen, bis Tess kommt?«

»Tess ist hier«, rief ich durch den Raum und ließ meinen Rucksack auf das zerschlissene Sofa fallen. Endlich zuhause! Cyrus drehte sich zu mir um und hob die dichten Brauen.

Alyssa atmete hörbar durch.

»Na endlich. Wo warst du so lange?« 

Ich wusste, dass ich mich verspäten würde, als mir der Bus vor der Nase weggefahren war. Aber so schlimm wie sie es darstellte war das alles nicht. Sie hatten alle den Samstagnachmittag frei. Meine Freundin Alyssa musste sich nur damit beschäftige, wie sie sich in den Ferien die Zeit am besten vertrieb. Brandon würde erst in zwei Wochen einen Job in der gleichen Fabrik antreten, in der auch sein Vater arbeitete. Cyrus schraubte in einer Autowerkstatt im Süden der Stadt an Kundenfahrzeugen, hatte aber die Wochenenden regelmäßig frei. 

Nur ich musste nachher noch an die Tankstelle.

»Sorry«, murmelte ich und prüfte mit einem Klopfen, ob das Mikrofon angeschlossen war. 

»Ja, ja«, winkte sie ab.

Alyssa nahm hinter dem Schlagzeug platz, das irgendeine andere Band hier zurückgelassen hatte. Sie hatte es sofort adoptiert. Ohne dieses vergessene Instrument wäre Alyssa nach ihrem ersten Besuch im Probenraum vielleicht nie wieder mit mir hierher gekommen und nie mit Brandon zusammengekommen. Ob ich das so sehr bedauern würde? 

Außer der Band hockten noch drei der üblichen Zuschauer im Probenraum, die gerne bei uns abhingen, wenn wir übten. Cyrus stöpselte die Gitarre und seinen Bass ein und spielte zum Test zwei Akkorde. 

Auf der Bühne bildeten die Jungs und ich meist eine Linie. Cyrus stand links von mir, Brandon rechts. Seit er mit Alyssa zusammen war, rückte er jedoch immer weiter nach hinten. Zwar war ich eine passable Sängerin und schämte mich nicht für meine Stimme, aber ich stand nicht gern allein im Rampenlicht. So war ich froh, dass ich wenigstens noch Cyrus hatte. 

Neben ihm fühlte ich mich immer sicher, weil er so sehr in sich ruhte. 

Ich liebte das Gefühl, mit ihm zusammen zu sein, aber wir würden füreinander nie mehr sein als Freunde. Das weiß ich genau, denn wir haben es versucht. Ich war das ganze letzte Jahr lang so verknallt in ihn. Es grenzte ans Lächerliche, wie sehr ich den Boden unter seinen Füßen angebetet hatte. Die Art, wie er seinen Bass spielte. Sein Lächeln, das sich immer zu verstecken schien. Seine schlammgrünen Augen, die genauso unergründlich aussahen wie der Bayou.

Jedes einzelne Detail hatte ich akribisch beobachtet und in kindlich naiven Gedichten im Glauben an meine eine große Liebe niedergeschrieben. Gedichte, die ich später alle verbrannt hatte, weil sie mir so unfassbar peinlich waren.

Wir haben uns genau ein Mal geküsst. Nach einer Probe hatte er mich zu den Fishers gefahren und wir haben noch lange im Auto gesessen und geredet. Wenn ich allein mit ihm war, konnte ich unheimlich gut mit ihm reden, doch seitdem hatten wir die Gelegenheit nicht mehr oft. 

Es ging von ihm aus. Ich erinnerte mich genau daran, als hätte ein innerer Rekorder alles aufgenommen. Das Gefühl seiner warmen Lippen auf meinen. Das Prickeln seiner Fingerspitzen auf meiner Haut. Noch unglaublicher als der Kuss war später nur seine Aussage, ich sei ihm zu intensiv. 

Bis heute weiß ich nicht, was er damit meinte. Ob seine Aussage einen verborgenen Sinn hatte, der sich mir einfach nicht erschließen mochte, oder ob er nur von mir ungehindert anderen Frauen nachschauen wollte… Keine Ahnung. Vielleicht war es besser so. Mein Gepäck wäre sogar einem so starken Menschen wie ihm früher oder später zu schwer geworden. 

Wir haben nach dieser Nacht nie wieder darüber gesprochen. Überhaupt reden wir seitdem selten mehr als ein paar Worte. Weder er noch ich sind Menschen für leeres Geschwätz. 

Die Band stimmt einen Song an, den wir schon etliche Male geübt haben. Den Text kenne ich auswendig – anders als bei manchen Songs auf unserer Playlist, für die ich hart arbeiten muss, fliegen mir die Zeilen von The Last One I Made nur so zu. 

Der Song wurde durch Teenwolf bekannt und ich liebte den harten britischen Akzent des Sängers. So tief wie er, konnte ich nicht singen, aber wenn Cyrus mich im Refrain begleitete, bekam ich jedes Mal Gänsehaut. Er hat zwar keinen englischen Akzent, aber seine Stimme ist so tief, dass der Klang etwas in mir zum Vibrieren bringt. 

Im Publikum hatte er mindestens genauso viele Fans wie ich. Obwohl ich zugeben muss, dass ich auf die Schwärmereien unserer Zuschauer nicht viel gab. Niemand von denen kannte mich wirklich. Sie sahen nur das Bild, das ich von mir auf der Bühne zeigte. Keiner wusste, dass ich ein Mädchen war, das nie jemand wollte.

Mit einem zweiten Song aus Teenwolf machten wir weiter. Gabrielle Aplin entsprach meiner Stimmlage schon viel mehr und ich musste die Tonart nicht für mich anpassen. Trotzdem forderte mich das Tempo des Songs heraus. Er war langsam und klar, während ich oft ein wenig vorschnell und unkonzentriert war. Das Lied zwang mir seinen Rhythmus auf und ich war dankbar dafür. In den Momenten, in denen ich es sang, fühlte ich mich ebenso langsam und klar. Es ließ mich besser erkennen, was von Bedeutung war. Jedes Mal aufs Neue.

Ob ich es wollte oder nicht – bei diesem Lied war mir stets alle Aufmerksamkeit sicher.

Bei unseren Auftritten spielen wir oft ein Gemisch aus Dark Indie und Singer-Songwriter Tracks, die einen deutlichen britischen Einschlag erkennen ließen. Darauf standen wir alle vier. Es war diese eine Sache, in der wir uns einig waren – Alyssa, Brandon, Cyrus und ich, The Alphabet.

Ich wünschte, ich könnte eines Tages auch so beeindruckende Songs erschaffen. Musik, bei denen die Zuhörer mehr fühlen als sie verstehen.

Nach einer Dreiviertelstunde legten wir eine Pause ein. Ich brauchte dringend einen großen Schluck Wasser. Louisiana kann erbarmungslos sein. Der Staat mit seiner ständigen Hitze und einer Luftfeuchtigkeit, die einem nassen Handtuch glich. Nicht dass ich in meinem Leben je einen anderen Staat besucht hätte, aber ich stelle mir immerhin vor, dass es an anderen Orten nicht ist wie in einer nassen Hölle.

»Kann ich auch?«, erkundigte sich Cyrus leise neben mir, als ich die Flasche wieder sinken ließ. Ich nickte und reichte sie ihm. Meine Augen klebten an seinen Lippen. 

»Alles okay?«, flüsterte er und drehte den Plastikdeckel gewissenhaft wieder zu.

»Ach, weiß nicht«, zögerte ich noch. Aus meiner Stimmung ein Gesprächsthema zu machen, war eigentlich nicht meine Art, aber ich sehnte mich nach einem echten Gespräch mit jemandem, der nicht gleich alles abtun würde, was ich sagte. Sein herausfordernder Blick gab schließlich den Ausschlag.

»Ich habe das Gefühl, die Fishers wollen mich abzuschieben. Fühlt sich blöd an, nicht zu wissen, ob man noch ein Zuhause hat, wenn man das nächste Mal dort ankommt.« Ich kaute auf der Innenseite meines Mundwinkels. »Irgendwie habe ich Angst, meine Sachen stünden schon gepackt in der Küche, wenn ich auftauche.«

»Wie kommt’s? Haste was angestellt?« Sein Achselzucken ließ Wut in mir auflodern. Warum muss immer alles meine Schuld sein? Was glaubten die Leute eigentlich, was ich den ganzen Tag machte? 

»Nein. Nichts. Ihr versteht das nicht. Keiner von euch«, klagte ich lauter als beabsichtigt. »So ist das eben, wenn man nirgends hingehört. Ihr habt Eltern, die sich um euch sorgen, wenn ihr abends nicht nach Hause kommt.  Meine Aufpasser grübeln nur über meine Strafe. Niemand vermisst mich, wenn ich verschwinde…«

Seine Brust hob sich mit einem kräftigen Atemzug. Seine Stimme war kaum noch als Flüstern zu erkennen, doch ich verstand jedes Wort. »Jeder gehört irgendwohin. Du musst nur deinen Hafen finden.«

»Tess, du kannst zu mir gehören, wenn du willst. Ich vermisse dich auch, wenn du nicht da bist«, mischte sich einer meiner Fans ein, der sich an mich herangeschlichen hatte. Manchmal waren solche Leute gruselig.

»Danke, sehr nett von dir.« Was sonst sagte man, auf so ein Angebot? Dass ich nicht darauf eingehen würde, stand ja wohl außer Frage. 

Aber ich wünschte, Cyrus hätte diese Antwort gewählt, statt dieses kryptische Hafenzeug. Noch immer machte sich ein idiotischer Teil von mir Hoffnungen darauf, dass er irgendwann bereit wäre für etwas Intensives. Für jemand Intensives. Wie mich. Was auch immer das bedeutete. Ich wusste es allerdings besser, als mich dieser Hoffnung hinzugeben. Hoffnung machte verletzlich – das wusste niemand besser als ich.

So oft hatte ich gehofft, ein Zuhause zu finden. Beim nächsten Mal ist es für immer… Tja, Überraschung, Tess, es ist nie für immer. Weil mein einnehmender Charakter keinem ausgereicht hatte, hatte ich nie einen echten Nachnamen bekommen. So wenig war ich dieser verfluchten Welt wert. 

In den Unterlagen hieß ich Teresa Brown. 

Teresa hatte auf dem Zettelchen gestanden, das an das Tuch gepinnt gewesen war, in das ich gewickelt gewesen war, als man mich auf dem Altar der St. Nicolas Kirche abgelegt gefunden hatte. Seit ich denken konnte, hatte ich mich für Tess als Rufnamen entschieden. Meinen Namen wollte ich nicht von Menschen haben, die mich abgelehnt hatten. Sie hatten keine Macht über mich. 

Brown ging auf meine Hautfarbe zurück, die weder schwarz noch weiß war. Ja, eine kreative Glanzstunde! Man vermutete, dass ich Wurzeln im lateinamerikanischen Raum hatte, aber so genau wusste das niemand, weil man nie herausgefunden hatte, wer mich ausgesetzt hatte. 

Seitdem folgte mein Leben einem gleichbleibenden Muster aus Aufnahme und Ablehnung, sodass ich wusste, was als Nächstes kam.

Die folgenden Kapitel sind in einer ebenso unbearbeiteten Version für meine Patrons verfügbar. Möchtest du auch dazu gehören? Folge mir auf www.patreon.com/erinjsteen

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